Liebe ichbindochnurich
Dein Beitrag berührt und beschäftigt mich, seit ich ihn vor ein paar Tagen gelesen habe und ich bin am Überlegen, wie ich dir antworten soll. Ich weiss es noch nicht, weiss nicht, wo ich anfangen soll, deshalb schreibe ich nun einfach drauf los. Ich gehe in Resonanz zu dem, was du geschrieben hast. Auch meine Kindheit und Jugend war von Gewalt geprägt, wie du habe ich gekämpft, über Jahre, Jahrzehnte, um heute da zu stehen, wo ich bin: Glücklich verheiratet, zwei wundervolle Kinder, ein Traumjob in meinem Wunschberuf, ein Haus. Von aussen also scheint alles perfekt. Alles erreicht. In mir drin sieht es anders aus. Wie du fühle ich mich bisweilen lebens-müde, also eben nicht im suizidalen Sinn, sondern im wortwörtlichen: Mein Leben, mein banaler, umspektakulärer Alltag kostet mich unglaublich viel Kraft.
Hast du deine Erfahrungen in therapeutischer Begleitung aufgearbeitet? Für mich war das ein immenser aber unabdingbarer Kraftakt. Über dieses Gefühl, noch immer im Kampfmodus festzustecken, habe ich mit meinem Therapeuten oft gesprochen. Ich habe für mich herausgefunden, dass das Kämpfen, dieser Kampfmodus für mich überlebenswichtig war, die Strategie war, die mich handlungsfähig gemacht und unglaubliche Energie frei gesetzt hat. Und obwohl dieser Modus dann bezogen auf die äusseren Bedingungen irgendwann nicht mehr nötig war, kämpfte ich weiter, weil es die einzige mir vertraute Art war, dem Leben zu begegnen. Mittlerweile gelingt es mir immer mal wieder, das Kämpfen zugunsten anderer Modi zurückzufahren. Ganz einfaches Alltagsbeispiel: Mittagessen kochen, meine Tochter (5) kommt bald hungrig vom Kindergarten, mein Sohn (2) möchte gefühlt alle 30 Sekunden etwas von mir. Ich bin gestresst, wimmle meinen Sohn ab, schaue ständig auf die Uhr, überlege, wann genau meine Tochter wohl kommt, ob das Essen dann bereit ist, ob das Mittagessen den beiden sowohl schmeckt als auch gesund ist - ich kämpfe! Wenn ich mir dessen gewahr werde, schaffe ich nun gelegentlich, aus dem Kampf auszusteigen: Ich schalte den Herd aus, damit nix anbrennt, lasse mich von meinem Sohn zu seiner Garage führen und lasse Autos die Rampe runtersausen. Wenn meine Tochter zur Tür reinkommt, decken wir gemeinsam den Tisch, ich koche zu Ende, während die beiden schonmal etwas Karrotten knabbern.
Ein anderer Aspekt, der mir sehr vertraut ist, ist dieser hier "Und nun fühle ich mich fremd in meinem Leben. Die Menschen, die uns umgeben scheinen mir immer etwas voraus zu haben (familiäre Unterstützung, Ressourcen aus einer guten Kindheit, Unbeschwerthei)." Dieses Fremdsein begleitet mich auch. Eigentlich ständig. Aber ich merke, wie sich das Gefühl verändert bzw. sich in seiner Intensität wandelt. Manchmal ist es ganz stark, tut richtig weh, macht mich einsam. In manchen Momenten ist es schwächer, dann fühle ich mich in Gesellschaft zwar immer noch wie ein Alien von einem anderen Stern, aber so, dass ich die Sprache der Erdbewohner um mich herum verstehe, kommunizieren kann, mich auf Gemeinsamkeit einlassen kann.
Seit einem halben Jahr habe ich beruflich intensiv mit zum Teil schwer kranken, behinderten, sterbenden Kindern mit teilweise auch sehr komplexen, schwierigen sozialen Umständen zu tun. Nun kommt mir zugute, dass ich weiss, was es heisst zu kämpfen, dass ich um Ränder, Schattenseiten und Abgründe des menschlichen Daseins weiss. Ich habe durch meine Geschichte gelernt, verschiedene und unterschiedlichste Aspekte einer Situation zusammenzudenken, zu verbinden, ich verschaffe mir einen Überblick, behalte die Fäden in der Hand und plane weitere Schritte. Ich kann viel aushalten, aber ohne abstumpfen zu müssen, weil ich Erfahrung mit Schmerz habe. Und weil mein eigenes Leben so lange Zeit völlig neben der Spur lief, wirft mich heute nix mehr so schnell aus der Bahn. Ohne meine Vergangenheit schönreden zu wollen oder in eine "in allem Schlechten steckt doch auch was Gutes drin"-Verblendung zu verfallen, versuche ich, diese meine Eigenschaften als Ressourcen zu sehen und zu würdigen.
Was für ein Roman, ich hoffe, du kannst damit was anfangen. Vielleicht magst du dich per PN ausführlicher austauschen? Wenn ja, dann bitte melden.
Von Herzen alles Gute!
Linnea